Der Ort des Kommunismus in den Westeuropäischen Demokratien seit 1945

Der Ort des Kommunismus in den Westeuropäischen Demokratien seit 1945. 5. Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismusforschung

Organisatoren
Claudia C. Gatzka, Albert-Ludwis-Universität Freiburg; Dominik Rigoll, Leibniz Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung
Förderer
Gerda-und-Hermann-Weber Stiftung; in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung
PLZ
10099
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
15.03.2023 - 17.03.2023
Von
Corinna Bittner, Historisches Institut, Universität zu Köln; Rhena Stürmer, Lehrstuhl für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Universität Leipzig / Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

„Der Westen war kommunistisch.“ – Mit dieser bemerkenswerten Aussage eröffnete SONJA LEVSEN (Trier) die Konferenz. Thematisch ausgerichtet auf Westeuropa und das Verhältnis zwischen liberal-demokratischen Gesellschaften und kommunistischen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden dominante Narrative kritisch hinterfragt und anhand von länderbezogenen Einzelstudien diskutiert.

Vor dem Hintergrund eines Vergleichs mit anderen westeuropäischen Demokratien stellte Sonja Levsen potenzielle Folgen für den „Möglichkeitsraum“ des Kommunismus in der Bundesrepublik nach 1945 dar. Sie skizzierte Besonderheiten in Zusammenhang mit der „Randständigkeit“ des Kommunismus, unter anderem hinsichtlich der Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, der Parteienlandschaft, der Arbeitswelt und auch der Geschichtswissenschaft. Ein prägnantes Beispiel bildete Levsens Hinweis auf den weitgehenden Verzicht auf den Begriff „Klasse“ in gesellschaftswissenschaftlichen und -politischen Diskursen der Bundesrepublik. Die Beobachtung, dass „Demokratisierung“ in der Bundesrepublik eine „innere“ Demokratisierung von gesellschaftlichen Strukturen, in Großbritannien und Frankreich hingegen eher die Erweiterung von Zugangsmöglichkeiten meinte, setzte einen wichtigen Denkanstoß für die weiteren Diskussionen.

Bezogen auf den historischen Vergleich diskutierten die Teilnehmer:innen der anschließenden Podiumsdiskussion, ob die Betonung von Spezifika im Ländervergleich nicht Gefahr liefe, neue „Sonderwege“ zu erschaffen. Levsen betonte, dass eine normativ-empirische Beschreibung einer spezifischen historischen Situation noch keinen Sonderweg intendiere. THOMAS KROLL (Jena) verwies darauf, dass auch die französischen und italienischen kommunistischen Parteien von Repression betroffen gewesen seien. Es gebe, so Kroll, zwar eine deutsche Spezifik im Umgang mit dem Kommunismus, aber dies bedeute noch keine Sonderstellung innerhalb der westlichen Gesellschaften. DOMINIK RIGOLL (Potsdam) benannte den Antikommunismus in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft als einen wesentlichen Faktor für die Schwäche der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD). Die Geheimdienstakten, so Rigoll, zeugen aber davon, dass die von der KPD ausgehende Gefahr von den Sicherheitsbehörden geringer eingeschätzt wurde als im öffentlichen Diskurs. TILL KÖSSLER (Halle-Wittenberg) verwies auf die innere Schwäche der KPD: Die Selbstbeschäftigung sowie die strukturelle und ideologische Abhängigkeit von der DDR sei für die lokale Verankerung in der BRD oft hinderlich gewesen. Kontrovers wurde das Spannungsfeld von historischer Forschung, politischer Bewertung und – unter Einbeziehung von Beiträgen aus dem Publikum – persönlichen Erfahrungen der Kommunist:innenverfolgung in der Bundesrepublik diskutiert. ULRICH MÄHLERT (Berlin) plädierte für die Notwendigkeit, sich bei der Thematisierung dieser Phase der BRD-Geschichte stets auch auf die stalinistische Verfolgung im Ostblock zu beziehen; Levsen und Rigoll traten dafür ein, den Antikommunismus deutsch-deutscher Ausprägung je nach Fragestellung zu untersuchen, was explizit nicht mit einer Dethematisierung stalinistischer Verbrechen gleichzusetzen sei.

In ihrer Einführung stellten CLAUDIA GATZKA (Freiburg) und DOMINIK RIGOLL zwei zentrale historiographische Deutungen des Kommunismus zur Disposition. Demnach würde entweder der Kommunismus als Faktor der Instabilität in Demokratien gesehen oder dessen Geschichte als eine der Zähmung oder Sozialdemokratisierung erzählt. Vor dem Hintergrund des „double-bind“ der Kommunist:innen zwischen Moskautreue und Beteiligung an westeuropäischen Demokratien sollten in der Tagung hingegen die komplexen Wechselwirkungen zwischen Demokratie und Kommunismus betrachtet werden: Erstens brachten Kommunist:innen alternative Demokratievorstellungen ein, wobei sie auf eine Beteiligung ihrer eigenen Basis und der Zivilgesellschaft setzten und – sofern sie an Regierungen beteiligt waren – eine Herrschaft des Volkes inszenierten. Zweitens verstanden sie sich als Gegenstimme in Politik und Gesellschaft, die auf Ambivalenzen, Widersprüche und Schwachstellen der Demokratien hinweisen wollte.

PAOLO CAPUZZO (Bologna) zeigte, wie im „Roten Bologna“ von 1945 bis 1956 der an Moskau orientierte Partito Comunista Italiano (PCI) eine lokale, weithin akzeptierte und demokratische Regierung etablieren konnte. Der PCI verstand sich seit 1944 als Massenpartei, setzte auf eine progressive, liberale Demokratisierung als Strategie, um den Sozialismus zu erreichen, und konnte sich zunehmend in der Mittelschicht verankern. Deutlich wurde das Spannungsverhältnis zwischen stalinistischer Ausrichtung und Demokratisierung. Capuzzo charakterisierte die Partei und ihre „communist political anthropology“ anhand der Kaderschule in Bologna, die von den Erfahrungen des Faschismus und Stalinismus geprägt war und Parteitreue über kritisches Denken stellte. Gleichzeitig hob er drei Beiträge des PCI zur Demokratisierung Italiens hervor: den Fokus auf die Region anstelle des Zentralstaats, die aktive Rolle von Frauen in Politik und lokaler Verwaltung sowie antirassistische Ideale und die Unterstützung antikolonialer Bewegungen.

Inhaltlich, räumlich und zeitlich schloss TERESA MALICE (Bielefeld) mit Blick auf die Arbeit kommunistischer Frauen in der „Wohlfahrt“ in den 1960er- und 1970er-Jahren in Bologna und der Region hieran an. Malice machte dabei eine grundlegende Ambivalenz zwischen diskursiver Unsichtbarkeit und der Festlegung auf traditionell weibliche Bereiche der Care-Arbeit und der Fähigkeit der Frauen, daraus emanzipatorischen Druck zu entwickeln, deutlich. Die Kommunistinnen erreichten in der privaten Wirtschaft, der Verwaltung und der Politik konkrete Veränderungen und trugen insgesamt zu einer wachsenden Anerkennung von Frauen jenseits ihrer Rolle als Mütter bei. Sie wirkten entscheidend daran mit, die kommunistische Idee der progressiven Demokratie als Weg zum Sozialismus in die Praxis umzusetzen.

MAXIMILIAN GRAF (Wien) sah die minoritäre Rolle der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) begründet im verbreiteten Antikommunismus, der dominanten Rolle der Sozialdemokratischen Partei Österreichs sowie den zunehmend fundamentaloppositionellen Positionen der KPÖ. Bei allen sozialpolitischen Verwerfungen, die eine Gelegenheit für die KPÖ hätten bieten können (etwa die konfliktbeladenen Lohn- und Preis-Abkommen zwischen 1947 und 1951), wirkte sich die repressive Politik im Ostblock, insbesondere in der Tschechoslowakei 1948 und 1968 sowie in Ungarn 1947/49 und 1956, in Verbindung mit der fehlenden Distanznahme der KPÖ zum sowjetischen Machthaber immer wieder negativ auf die Partei und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit aus.

TILL KÖSSLER plädierte für eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als sozialer Bewegung speziell auf lokaler Ebene. So ließe sich für die KPD beispielsweise zeigen, dass die starke Abhängigkeit von der SED zwar ihre Politik maßgeblich bestimmte; zugleich versuchte sie auf betrieblicher und lokalpolitischer Ebene, politisch Einfluss zu nehmen, was mit einer Vertiefung demokratischer Verhältnisse einherging. Kössler zeigte in kritischer Diskussion von Martin Conways Demokratie-Konzeption1, dass die aktiven Gewerkschafter unter den KPD-Mitgliedern zumindest in Ansätzen eine betriebliche Arbeitermacht und eine breitere Diskussion um Demokratiemodelle und Mitbestimmung ermöglichen konnten – auch wenn dies vonseiten der SED immer wieder ideologisch überfrachtet und eine auf Verlässlichkeit und Kontinuität fokussierte Lokalpolitik verunmöglicht wurde.

PHILIPP KUFFERATH (Bonn) näherte sich über drei biographische Fallstudien den Motiven für den politischen Seitenwechsel ehemaliger Kommunisten zur Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD) nach 1945. Siegmund Neumann, Eduard Wald, Otto Wollenberg waren in der Weimarer Republik in der KPD aktiv gewesen und hatten ab 1933 unter mannigfacher Verfolgung gelitten. Dies sowie die Erfahrungswelten in den Exilländern auch jenseits des Kommunismus relativierten ihre parteipolitische Gegnerschaft zur SPD. Die Notwendigkeit, das neue demokratische System vor erneuten faschistischen Bewegungen und dem autoritären Stalinismus zu schützen, brachte sie dazu, ihr Erfahrungswissen und ihr machtstrategisches Geschick in den frühen bundesrepublikanischen Geheimdiensten oder den SPD-Gewerkschaftsstrukturen einzubringen.

FIAMMETTA BALESTRACCI (Turin) widmete sich ebenfalls einer speziellen Personengruppe und untersuchte das politische Profil und die Praxis von 73 kommunistischen Frauen im parlamentarischen System Italiens zwischen 1968 und 1983. Antifaschistisch sozialisiert, gut ausgebildet, im parteipolitischen Apparat der Partei groß geworden und geprägt vom Feminismus und der Frauenfrage, arbeiteten die weiblichen Abgeordneten des PCI auch parteiübergreifend an der Durchsetzung demokratischer (Frauen-)Rechte. Balestracci zeigte, wie diese Praxis nicht nur zur Demokratisierung Italiens beitrug, sondern auch das politische Themenspektrum des PCI erweiterte.

HARM KAAL (Nijmegen) betrachtete die Rolle einer weiteren marginalisierten kommunistischen Partei in Westeuropa: Die Communistische Partij Nederland (CPN) sah sich ebenfalls mit einem starken Antikommunismus konfrontiert, der sich aufgrund der repressiven Politik im Ostblock noch verstärkte. Eine fehlende kritische Auseinandersetzung der CPN mit dem sowjetischen Agieren beeinträchtigte auf lange Sicht die Erfolge. In Anlehnung an Martin Conway zeigte Kaal, dass mit der Etablierung einer formalen, staatsnahen Demokratie die Strategien der CPN nicht mehr mit den Vorstellungen der Bevölkerung harmonierten – diese wollte sich nicht mehr über Streiks, Demonstrationen und radikale Kommunikation am demokratischen Prozess beteiligen, sondern in erster Linie wählen gehen. Erst als die CPN in den 1980er-Jahren zunehmend mit anderen linken Parteien kooperierte und sich stärker im niederländischen Kontext profilierte, konnte sie einige Erfolge verzeichnen.

Internationale Beziehungen von Kommunist:innen gingen oft über den Eisernen Vorhang hinweg.2 FRANCK SCHMIDT (Heidelberg) zeigte am Beispiel des Vereins Échanges franco-allemands (EFA), wie Kommunist:innen über diese nichtstaatliche Organisation seit 1958 Einfluss auf die internationale (Kultur-)Politik Frankreichs nahmen. Der EFA gestaltete Städtepartnerschaften zwischen der DDR und Frankreich, bot Sprachreisen an und bemühte sich um ein positives Bild der DDR in Frankreich. Als inoffizielles Ziel wies Schmidt aber die Anerkennung der DDR durch Frankreich aus. Der EFA war dabei faktisch vom Parti Communist Français kontrolliert, gab sich aber politisch plural und pflegte Kontakte in andere politische Kreise. Gerade für Arbeiter:innen ermöglichte der Verein soziale Teilhabe durch Zugang zu kultureller Bildung.

Dass Kommunismusgeschichte Teil von Migrationsgeschichte ist, zeigten GRAZIA PRONTERA (Salzburg) und KAROLINA NOVINSCAK KÖLKER (Regensburg). Die Beziehungen von jugoslawischen und italienischen „Gastarbeiter:innen“ zu Kommunist:innen in den Herkunftsstaaten liefen dabei in München in den 1970er-Jahren auch über migrantische (Kultur-)Vereine. Der Savez komunista Jugoslavije befürchtete eine antikommunistische Beeinflussung der jugoslawischen Staatsbürger:innen durch in der Bundesrepublik lebende Exilant:innen und schränkte politische Aktivitäten der Vereine ein. In den italienischen Kulturvereinen fand hingegen in dieser Zeit der PCI einen Raum, in dem er sich an politischen und gesellschaftlichen Debatten beteiligen konnte und Kontakt zu gewerkschaftlichen und linken Organisationen der Bundesrepublik suchte. In München ergab sich so eine Konstellation, in der ein osteuropäischer Staatskommunismus enger mit den staatlichen Behörden der Bundesrepublik zusammenarbeitete als eine Kommunistische Partei aus einer westeuropäischen, liberalen Demokratie.

RAQUEL VARELA (Lissabon) argumentierte, dass der Partido Comunista Português (PCP) in der Revolution und der Demokratisierung zwischen 1974 und 1975 in Portugal sich darauf konzentrierte, zentrale Positionen in den bestehenden Strukturen einzunehmen. Varela betonte, dass der PCP die von Teilen der Zivilbevölkerung getragene Revolution bremste, die diese mit dem Ziel eines basisdemokratischen Rätesystems und gesellschaftlicher, militärischer und wirtschaftlicher Selbstorganisation begonnen hatte. Wie auch andere Parteien beteiligte der PCP sich an einer Entschärfung der Revolution, mit dem Ziel, Portugal zu einer repräsentativen Demokratie umzubauen. Die Revolution in Portugal ist dabei, so zeigte Varela, auch in vielfältigen internationalen Zusammenhängen zu verorten.

Der spanische Kommunist Jordi Solé Tura, so zeigte PABLO GIL VALERO (Paris), brachte wichtige intellektuelle Impulse für eine neue kommunistische Identität im post-Frankistischen Spanien. Solé Tura hatte sich während seiner Zeit im Exil vom Stalinismus distanziert, wichtige Texte der kommunistischen Theorie ins Spanische übersetzt und sich dem Eurokommunismus zugewandt. In Spanien kandidierte er 1977 für den kommunistischen Partit Socialista Unificat de Catalunya und beteiligte sich an der Verfassungsgebung für die neue Demokratie. Valero zufolge war Solé Turas journalistische Arbeit und sein Auftreten in der Öffentlichkeit als kommunistischer Intellektueller entscheidend für den Demokratisierungsprozess und die Akzeptanz der Kommunistischen Partei als Akteur darin.

Wie prägend eurokommunistische Strömungen waren, thematisierte THORSTEN HOLZHAUSER (Stuttgart) für die Zeit nach 1989. In dieser Phase des „Postkommunismus“ stellte Holzhauser eine „Grammatik“ linker Parteien in Westeuropa vor. Nach einer grundlegenden Verunsicherung durch den Zerfall des osteuropäischen Kommunismus setzten sich die (post-)kommunistischen Parteien neue Werte wie Menschenrechte und Freiheit und verstanden sich als kritischer Teil der Parteienlandschaft und der liberalen Demokratien. Das Selbstverständnis als kritische Stimme und zugleich staatstragender Teil der Demokratie verwickelte die Parteien dabei in Widersprüche, und sie blieben – insbesondere, wenn sie an Regierungen beteiligt waren – meist hinter selbstgesetzten Idealen zurück.

YVES MÜLLER (Halle) und BENET LEHMANN (Gießen) fragten nach der agency kommunistischer Überlebender für die demokratische Erinnerungskultur. Anhand von Emil Carlebach und Esther Bejarano verfolgten sie die These, dass sie die bundesrepublikanische Demokratiegeschichte um die Perspektive kommunistisch-jüdischer Überlebender erweitern konnten, da die Erinnerungskultur auf die Zeugenschaft der Überlebenden angewiesen war und damit auch die kommunistischen Stimmen nicht gänzlich ignorieren konnte. Jedoch musste die kommunistische Identität von den Protagonisten immer wieder begrenzt werden. Sie mussten sich auf die von ihnen erwartete Viktimisierung beschränken, das Kommunistische blieb – entpolitisiert – im Hintergrund.

CORINNA BITTNER (Köln) skizzierte die Etablierung einer lokalen antifaschistischen Erinnerungskultur am Beispiel des Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager. Ab Ende der 1970er-Jahre begann man dort, konkrete Erinnerungsarbeit zu leisten; mittels Interviews mit kommunistischen Überlebenden konnten diese teilweise erstmalig ihre Verfolgungsgeschichte und ihre politische Identität explizit machen. Zugleich trafen im Emsland die Erinnerungen linker Häftlinge auf ein traditionell stark christdemokratisch geprägtes Umfeld. Bittner zeigte, wie die beteiligten Akteure die (erinnerungs-)politischen Differenzen verhandelten und dass man sich letztlich auf den Begriff des Antifaschismus sowie auf das Konzept der demokratischen Bildung einigte.

LEA FINK (Berlin) zeigte die veränderte Verortung des Kommunismus in der Kritischen Theorie anhand der Schriften Ernst Blochs, Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Als sich der Befreiungsgedanke und das moralische Versprechen des Kommunismus durch den Stalinismus zerschlugen, verlagerte sich die Vorstellung vom konkreten Kommunismus bei den Akteuren in den Bereich des utopischen Denkens und der Kunst. Damit verschwand auch der Anspruch einer engagierten empirischen Sozialforschung; sie wurde zu einem wissenschaftlichen Untersuchungsfeld und büßte die Möglichkeit zu einer Arbeit an der Veränderung der Gesellschaft ein. Zugleich traten die Akteure der Kritischen Theorie verstärkt für die liberaldemokratischen Verhältnisse ein, um sie vor antidemokratischen, totalitären Tendenzen zu schützen – wenngleich sie ihre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft beibehielten.

JOHANNA WOLF (Frankfurt am Main) zeigte, wie in den 1960er/70er-Jahren verschiedene K-Gruppen in der Bremer Vulkan-Werft aktiv wurden und das politische Vakuum zu füllen versuchten, welches die Gewerkschaften hinterlassen hatten. Aus der Perspektive der Belegschaft gab es weiterhin Anlässe für Arbeitskämpfe, und Wolf zeigte anhand eines wilden Streiks von 1973, dass die K-Gruppen in diesen ihren radikaldemokratischen Forderungen kurzzeitig Gehör verschaffen konnten. Zugleich existierten aber auch innerhalb der K-Gruppen unterschiedliche Vorstellungen über die Forderungen und das Verhältnis zu den Gewerkschaften, die in teilweise scharfer Konkurrenz zueinander standen.

Anhand der Biographien und Werke von Wolfgang Abendroth, Wolfgang Leonhardt und Hermann Weber wies MARIO KEßLER (Potsdam) die Konsequenzen aus, die diese aus den Widersprüchen zwischen demokratischer und kommunistischer Gesinnung zogen. Alle drei waren seit ihrer Jugend in kommunistischen Parteien aktiv, hatten sich aber nach 1945 unter dem Eindruck des Stalinismus vom (Partei-)Kommunismus distanziert. In der Bundesrepublik befassten sie sich weiterhin mit Geschichte und Theorie des Kommunismus, wobei Keßler hinsichtlich der ideologischen Verbundenheit mit dem Kommunismus und der Schärfe der Kritik daran graduelle Unterschiede zwischen den drei Personen auswies.

JÖRG ARNOLD (Nottingham) warf einen Blick auf Interpretationen in der kulturellen Erinnerung an den britischen Bergarbeiterstreik von 1984/85. Er stellte dabei eine komplexe Entwicklung heraus: Obwohl die Communist Party of Great Britain während des Streiks präsent war, konnte sie auf dessen Verlauf kaum Einfluss nehmen und weder die Differenzen zwischen Teilnehmern und Gegner der Streiks unter den Industriearbeitern noch dessen Niederschlagung unter Thatcher verhindern. Gleichzeitig prägten (euro-)kommunistische Intellektuelle bereits während des Streiks eine Lesart, die darin einen Ursprung neuer Allianzen zwischen Alter und Neuer Linker behauptete und die bis heute die Sicht auf den Streik in der Öffentlichkeit prägt.

Der Tagung gelang es im Verlauf, bis heute bestehende Narrative zu hinterfragen und nicht nur Ambivalenzen, sondern auch Anteile des Kommunismus an der Entwicklung westeuropäischer Demokratien zu beleuchten. Der oft mikrohistorische Blick der Beiträge auf Lokalgeschichte, einzelne Organisationen, Einrichtungen oder Personengruppen trug zu der wesentlichen Erkenntnis der Pluralität des westeuropäischen Kommunismus bei. Immer wieder diskutierten die Teilnehmer:innen auch die Unterschiedlichkeit der liberaldemokratischen westlichen Gesellschaften, von deren Selbstverständnis auch die jeweilige Einschätzung des Kommunismus abhing. Deutlich wurde dabei, dass der Antikommunismus kein Phänomen der Bundesrepublik war, sondern auch in anderen Ländern tatsächliche oder zugeschrieben Verbindungen zu Moskau die KPs isolierten. Dieser Effekt wurde dann verstärkt, wenn sie kein anderes profilbildendes Thema hatten, ihnen die kommunistische Basis fehlte und die lokale Verankerung nicht gelang.

Zu untersuchen wären in einer erweiterten zeitlichen Perspektive der Niedergang des westeuropäischen Kommunismus in den 1970er-Jahren, das Verhältnis des Parteikommunismus zu den Neuen Sozialen Bewegungen sowie der Eurokommunismus. Ebenso wäre nach intellektuellen Einflüssen und nach innerkommunistischen gesellschaftsanalytischen Konzepten in den Demokratien zu fragen. Schließlich wäre eine stärkere Fokussierung auf inter- und transnationale Verflechtungen der kommunistischen Bewegungen wünschenswert, um beispielsweise Wissenstransfers genauer nachzuvollziehen. Einen Anlass hierfür bietet die 6. Hermann-Weber-Konferenz 2024, die sich unter dem Titel „Von der Internationale zur Völkerfreundschaft?“ dem Thema Kommunismus und Transnationalität im 20. Jahrhundert widmen wird.

Konferenzübersicht:

Keynote

Sonja Levsen (Trier): Wie die Randständigkeit des Kommunismus die Bundesrepublik prägte: Beobachtungen aus dem Vergleich mit ihren westeuropäischen Nachbarn

Podiumsdiskussion
Moderation: Ulrich Mählert (Berlin)

Sonja Levsen (Trier) / Thomas Kroll (Jena) / Till Kössler (Halle-Wittenberg) / Dominik Rigoll (Potsdam)

Einführung

Claudia Gatzka (Freiburg) / Dominik Rigoll (Potsdam)

Panel I: Kommunisten an der Macht
Moderation: Christian Jansen (Trier)

Paolo Capuzzo (Bologna): Democracy and Communism in Bologna (1945–1956)

Teresa Malice (Bielefeld): Zwischen Politik und lokaler Verwaltung: Kommunistische Frauen und Welfare im „Roten“ Bologna in den 1960er und 1970er Jahren

Panel II: Kommunisten ohne Macht?
Moderation: Sonja Levsen (Trier)

Maximilan Graf (Wien): Die Rolle des Kommunismus in der österreichischen Demokratie

Till Kössler (Halle-Wittenberg): Kommunismus und Demokratie in der Bundesrepublik

Panel III: Kommunisten und demokratische Institutionen
Moderation: Zoé Kergomard (Zürich)

Philipp Kufferath (Bonn): Politische Impulse und Lernerfahrungen ehemaliger Kommunisten innerhalb der deutschen Sozialdemokratie nach 1945

Fiametta Balestracci (Turin): Il balzo in avanti. Kommunistische Frauen im italienischen Parlament während der langen 1970er-Jahre

Harm Kaal (Nijmegen): Dutch Communism, Electioneering, and Democracy, c. 1945–1970s

Panel IV: Kommunisten über Grenzen
Moderation: Marcel Bois (Hamburg)

FRANCK SCHMIDT (Heidelberg): Popularisierung einer kommunistischen Sache: die Freundschaftsgesellschaft Frankreich-DDR und die Institutionen der Französischen Republik (1958–1989)

GRAZIA PRONTERA (Salzburg) / KAROLINA NOVINSCAK KÖLKER (Regensburg): Die Kommunistischen Parteien Italiens und der SFR Jugoslawien und ihr Verhältnis zu „Gastarbeiter:innen“ im München der 1970er- und 1980er-Jahre

Panel V: Kommunisten in der Transition
Moderation: Dominik Rigoll (Potsdam)

Raquel Varela (Lissabon): The Role of the Portuguese Communist Party in Transition to Democracy: a Global History Approach

Pablo Gil Valero (Paris): Eurocommunism and Democracy: Jordi Solé Tura During Spain’s Transition to Democracy

Thorsten Holzhauser (Stuttgart): Vom Kommunismus zur „Linken“: (Post-)Kommunistische Parteien in Westeuropa nach 1989

Panel VI: Kommunistische Gegenerinnerung
Moderation: Dominik Rigoll (Potsdam)

Yves Müller (Halle), Benet Lehmann (Gießen): Beiträge von jüdischen Kommunist:innen zur demokratischen Erinnerungskultur der Bundesrepublik am Beispiel von Emil Carlebach und Esther Bejarano

Corinna Bittner (Köln): Sammlung als Begegnung. Kommunistische Überlebende und die Gedenkstättenbewegung im Emsland

Panel VII: Kommunismus und Neue Linke
Moderation: David Bebnowski (München)

Lea Fink (Berlin): Utopie und Nicht-Orte des Kommunismus. Das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Demokratie und zum „realexistierenden“ Sozialismus

Johanna Wolf (Frankfurt am Main): Kommunisten im Betrieb. Die Neue Linke auf der Bremer Vulkan Werft in den 1970er-Jahren

Panel VIII: Kommunisten als Deutende
Moderation: Thomas Kroll (Jena)

Mario Keßler (Potsdam): Kommunisten und Ex-Kommunisten als Demokratieforscher in der „alten“ Bundesrepublik

Jörg Arnold (Nottingham): A British Road to Socialism? Kommunismus und der britische Bergarbeiterstreik 1984/85

Anmerkungen:
1 Vgl. Martin Conway, Western Europe’s Democratic Age 1945–1968, Princeton 2020.
2 Vgl. Arnd Bauerkämper (Hrsg.), Bruderparteien jenseits des Eisernen Vorhangs. Die Beziehungen der SED zu den kommunistischen Parteien West- und Südosteuropas, Berlin 2011.

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